Ein Beitrag zum C. P. Hansen Jugendpreis 2025
1. Welche Gegenden nannte man früher und welche nennt man heute noch friesisch?
In der römischen Zeit, vor etwa zweitausend Jahren, galt die gesamte Nordseeküste von der Mündung des Rheins bis zur Weser als friesisch, wobei man nicht weiß, ob einfach alle Küstenbewohner Friesen genannt wurden oder ob sie sich auch selber so bezeichneten. Gegen Ende der römischen Zeit, vor rund tausendsechshundert Jahren, gab es große Völkerwanderungen, und zu den wenigen „Frisen“, die noch an der Küste lebten, kamen zahlreiche neue Menschen aus dem heutigen Schleswig-Holstein, aus Dänemark und aus Nordfrankreich. Sie alle nannten sich schließlich ebenfalls „Friesen“, egal, wo sie hergekommen waren, und entwickelten eine gemeinsame Sprache, das Friesische. Im frühen Mittelalter besiedelten Friesen von dort aus auch das heutige Nordfriesland. Das Elbegebiet und Dithmarschen dagegen gehörten niemals dazu, hier lebten die Sachsen.
In vielen dieser friesischen Regionen wechselten die Menschen sehr viel später ihre Sprache erneut, von Friesisch zum Beispiel zu Niederländisch oder Plattdeutsch. Das hatte oft rein praktische Gründe – mit wem musste man sich am häufigsten verständigen –, hatte aber auch etwas mit Prestige oder Bildung zu tun. Damit änderte sich häufig auch das Selbstbild: Irgendwann sah man sich nicht mehr als speziell friesisch, sondern zum Beispiel als Niederländer.
Daher kommt es, dass die Gebiete, die heute als friesisch gelten, nicht direkt nebeneinander liegen. In den Niederlanden ist es vor allem die Provinz (in Deutschland würde man Bundesland sagen) Fryslân, aus deutscher Sicht nennen wir sie Westfriesland. Rund 100km östlich davon liegt Ostfriesland, wo vor allem Plattdeutsch gesprochen wird; es umfasst drei Landkreise und die Stadt Emden in Niedersachsen, wobei es unmittelbar angrenzend weitere Gebiete gibt, die sich ebenfalls als friesisch sehen, wie z.B. der Kreis Friesland mit der Hauptstadt Jever (die dort gebraute Biermarke ist ziemlich bekannt und bewirbt sich selbst als „friesisch herb“), die Stadt Wilhelmshaven oder die vier tatsächlich friesischsprachigen Dörfer im Saterland. In Luftlinie etwa 150 km weiter Richtung Nordosten folgt schließlich Nordfriesland, wo teils Plattdeutsch, teils traditionell Friesisch gesprochen wird, das aber dennoch ähnlich wie Ostfriesland vollständig als friesisch gilt. Und nicht zu vergessen: Ungefähr in der Mitte zwischen Ost- und Nordfriesland, mitten in der Nordsee befindet sich die friesische Insel Helgoland.
2. War Friesland früher einmal ein eigenes Land?
Ein „Gesamtfriesland“ gab es nie, aber natürlich zahlreiche Herrschaftsbereiche, die sich als friesisch sahen und deren Einwohner sich oft in vieler Hinsicht selbst verwalteten („friesische Freiheit“). Immer wieder arbeiteten sie auch zusammen, so zum Bespiel in dem berühmten mittelalterlichen Bund der „sieben freien Seelande“ aus Ostfriesland und den heutigen Niederlanden. Aber selbst der legendäre König Radbod, den manche als DEN friesischen König verehren, hat niemals ein stabiles und alle Friesen umfassendes Reich regiert, vielleicht war er einfach nur ein lokaler Herrscher, der in Kriegszeiten von anderen Kleinkönigen als gemeinsamer Anführer respektiert worden ist.
Nordfriesland allerdings gehörte niemals zu einem solchen überregionalen friesischen Bund. Doch auch hier gab es Landesteile, die sich selber verwalteten, die sogenannten Harden. Sie zahlten zwar Steuern an den Landesherrn – die Herzöge von Schleswig oder die dänischen Könige –, regelten aber ihre inneren Angelegenheiten weitgehend selber. Wenn es nötig war, arbeiteten sie auch zusammen. So gab es mal ein Bündnis von sieben Harden, die gemeinsam ihre überlieferten Rechte gegenüber dem Herzog vertraten (die sogenannte „Siebenhardenbeliebung“ aus dem Jahr 1426, einen der beiden ältesten nordfriesischen Rechtstexte, die wir überhaupt kennen), später auch Zusammenschlüsse von fünf oder auch einer anderen Zahl von Harden, je nachdem, was gerade sinnvoll erschien.
3 Gehörte Nordfriesland früher zu Dänemark oder Deutschland?
Deutschland existiert als Staat erst seit 1871. Wenige Jahre vorher hatte Preußen – im späteren deutschen Reich der mächtigste Teilstaat (heute würde man Bundesland sagen) – das Herzogtum Schleswig erobert und annektiert, also gegen den Willen der Bevölkerung, die sowohl von Dänemark als auch von Preußen unabhängig sein wollte, unterworfen und zu einem Teil Preußens gemacht. Und damit auch Nordfriesland.
Dieses Herzogtum Schleswig umfasste den heutigen Landesteil Schleswig, eigentlich müsste man Südschleswig sagen, und den Süden des heutigen Dänemark, das ungefähr ebenso große Nordschleswig. Es war zwar ein eigener Staat, die Herzöge konnten vieles selbst entscheiden; sie waren aber dem König von Dänemark als „Lehnsmänner“ unterstellt und mussten ihm Treue schwören. Oft war der dänische König zugleich auch Herzog von Schleswig, musste dabei aber bestimmte Regeln beachten und konnte nicht Königreich und Herzogtum völlig gleich regieren.
Das Herzogtum Schleswig geht letzlich zurück auf die Zeit von Wikingerkönigen, die von Haithabu (woraus später die heutige Stadt Schleswig wurde) aus regierten. Es hat also eine eigene Geschichte, die rund tausend Jahre vor der Eroberung durch Preußen beginnt. Nordfriesland gehörte durchgehend dazu, war also, vereinfacht gesagt, über tausend Jahre ein Teil Dänemarks und ist erst seit rund 150 Jahren „deutsch“.
4. Seit wann gab es in Nordfriesland eine Demokratie?
Echte Demokratie gibt es in Nordfriesland wie in Deutschland insgesamt erst seit der deutschen Revolution 1918 (und dann nach der Nazidiktatur wieder ab 1946), vorher war es eine Monarchie, lange unter den dänischen Königen und den Herzögen von Schleswig, nach der Eroberung des Landes 1864 durch Preußen dann unter dem preußischen König, der seit 1871 auch Kaiser war. Aber natürlich gab es bereits vorher wechselnde Formen von Mitbestimmung: So durften seit 1836 die „Stände“ des Herzogtums Schleswig, zu dem auch Nordfriesland gehörte, in der Ständeversammlung z.B. über Zölle, Wehrpflicht oder Armenfürsorge mitberaten, wobei allerdings nur Personen mit ausreichend Landbesitz oder Vermögen wählen durften und manche Vertreter auch gar nicht gewählt, sondern vom König berufen wurden. Über den Haushalt, also wofür Geld ausgegeben wurde, entschied der König jedoch nach wie vor selber.
5. Was genau bedeutete die „friesische Freiheit“, wenn es denn keine Demokratie war? Wie frei waren die Menschen bei den Friesen?
Ihre inneren Angelegenheiten regelten sie selbst. Wenn jemand einer anderen Familie geschadet hatte, z.B. durch Körperverletzung oder Totschlag, stellten sie selber Regeln auf, wie durch Entschädigungszahlungen der wirtschaftliche Schaden ausgeglichen werden konnte. Es ging eigentlich immer darum, den Frieden und ein gutes Miteinander wieder herzustellen, und das geht oft am besten vor Ort, dort, wo man sich kennt, Streit möglichst direkt schlichtet und Lösungen findet, die allen fair erscheinen. Auch das Erbrecht spielte eine sehr große Rolle: Wie bleibt der Besitz, vor allem das Land in der Familie? Raub wurde schwer bestraft, es gab Ächtung oder auch Landesverweise, aber nur im extremen Ausnahmefall die Todesstrafe oder Gefängnisse; das kam erst im 16. Jh. auf und blieb den Herrschern – den Herzögen von Schleswig oder dem dänischen König – vorbehalten. Und mit den Regierungen gab es Vereinbarungen darüber, dass Wehrdienst in der Regel nur zuhause und zum Schutz der Frieslande geleistet werden musste, aber nicht andernorts, und auch, welche Steuern die Gemeinschaft zu entrichten hatte; wer aber im einzelnen dafür zahlte, wurde zumeist intern geregelt – die Friesen ließen sich ungern in die Karten blicken.
6. Wo kam die friesische Freiheit eigentlich her, wie ist sie entstanden?
In alten Erzählungen heißt es, die Friesen hätten ihre Freiheit von Kaiser Karl dem Großen verliehen bekommen, weil die Friesen in Rom ihm den Weg zur Peterskirche freigekämpft hätten, als er sich an Weihnachten des Jahres 800 vom Papst zum Kaiser krönen lassen wollte. Andere Berichte behaupten, ein Urenkel Karls des Großen, Kaiser Karl der Dicke, habe den Friesen ihre Freiheitsrechte gegeben, damit sie im Gegenzug die Küste gegen das Meer und gegen die Wikinger beschützen. Da dürfte schon etwas mehr dran sein, denn tatsächlich hat wohl dieser Kaiser als erster das eigene Recht der Friesen in den heutigen Niederlanden und Ostfriesland aufschreiben lassen, um zu wissen, was er als Herrscher beachten musste, um keinen Aufstand auszulösen.
Die Wahrheit aber ist wohl, dass die Friesen in Gegenden lebten, die einfach vom Land aus schwer zugänglich waren – man musste durch unübersichtliche, gefährliche Moore hindurchkommen, um an die Küste zu gelangen, und dann noch beachten, dass die Salzwiesen, in denen die Friesen auf Wohnhügeln lebten, regelmäßig vom Meer überflutet wurden. Für Friesen dagegen waren diese Gebiete sehr wertvoll: Sie konnten mit Landunter umgehen, konnten also die fruchtbaren Salzmarschen nutzen, um dort Vieh zu mästen und Schafe zu halten (Wolle und Fleisch waren sehr wertvoll und wurden ihnen gerne abgekauft); sie wussten, wie man aus dem Torf unter dem Watt Salz gewinnt (Salz war kostbar wie Gold, weil man damit Lebensmittel haltbar machen konnte, bevor es Kühlschränke oder Dosen gab; vor allem Fleisch und Fisch wurden mit viel Salz in Fässern eingepökelt); und sie kannten sich aus, wie und mit welcher Art von Schiffen man im Wattenmeer am besten segelt, und waren damit als Händler auf der Route von Westeuropa nach Skandinavien für mehrere Jahrhunderte sehr erfolgreich. Für Friesen ist das Wasser der wichtigste Verkehrsweg, und noch heute heißt es gelegentlich „Friesen blicken zum Meer, sie kehren dem Festland den Rücken zu“ – die Verwandtschaft in Übersee, die viele Nord- und Ostfriesen haben, ist oft wichtiger als was in Kiel oder Flensburg so passiert. Friesen waren halt schon immer international, und es lohnte sich sehr, am und mit dem Wattenmeer zu leben.
Aber zurück zur Frage: Vom Festland aus sah das Bild anders aus. Zu den Friesen gelangte man nur schwer hin, es war mühsam, dort mit Gewalt etwas durchzusetzen oder gar das Land zu erobern. So kam es, dass man meistens Verträge schloss, die beiden Seite halfen: Die Nordfriesen zahlten zwar Abgaben und Steuern an den Herzog oder König, dafür bekamen sie Schutz für ihre Händler und auch Rechtssicherheit gegen Angreifer von außen; aber ihre inneren Angelegenheiten – was an Regelverstößen wie bestraft wurde, wie Streit beigelegt wurde, wer wen heiraten durfte und wer was erbte, wer Land kaufen durfte oder auch wer welchen Anteil an Steuern zu zahlen hatte – regelten sie selber. Das man die Dinge am besten selber regelt, ergab sich auch schon aus der Landschaft, in der Friesen lebten: Nordfriesland besteht vor allem aus Inseln, teils im Wattenmeer, teils zwischen Moorgebieten, die kleinsten „Inseln“ sind die Halligen, künstliche Hügel, bei denen bei Sturmfut nur noch die Kuppe mit den Häusern aus dem Wasser ragt. In solchen Gegenden ist jeder auf jeden angewiesen. Wenn irgendwo das Wasser steigt, kann man nicht auf Hilfe von außen warten, sondern alle müssen allen helfen. Es ist also folgerichtig, dass man eigene Regeln findet, die zum Land, zur Gemeinschaft vor Ort passen und die den Zusammenhalt stärken. Diese Freiheit, nach innen selber zu entscheiden, haben ihnen die Herzöge immer wieder bestätigt, meistens, wenn sie von den Friesen Hilfe oder Geld brauchten.
In Ostfriesland war das etwas anders. Hier gab es tatsächlich keine Herrscher, die woanders saßen, hier galt tatsächlich nur der Kaiser als direktes Oberhaupt, der ihnen ihre Freiheit garantierte – das galt sonst nur für den Hochadel, Reichsstädte, Bischöfe und reichen Klöster. Im hohen Mittelalter jedoch wurden manche ostfriesische Familien immer mächtiger und reicher, ihre Oberhäupter nannten sich schließlich Häuptlinge, beherrschten ganze Teilregionen und kämpften immer wieder gegeneinander um noch mehr Macht. Schließlich setzte sich eine Familie durch, die Cirksena; ihr Häuptling ließ sich im Jahr 1464 vom Kaiser zum Reichsgrafen von Ostfriesland ernennen. Aber auch er konnte nicht frei regieren, immer wieder wehrten sich die einzelnen Regionen und Städte Ostfrieslands gegen Versuche, ihnen zu viel vorzuschreiben; um nicht im Dauerstreit zu bleiben, wurde nach und nach eine Art Parlament geschaffen, eine Vertretung der ostfriesischen Städte, Ritter und Bauern – der „Stände“ –; ohne Zustimmung dieser „Ostfriesischen Landschaft“ durfte der Graf von Ostfriesland keine neuen Steuern erheben, keinen Krieg führen und keinen Deichbau veranlassen, um neues Land zu gewinnen. Hier gab es also tatsächlich schon vor über fünfhundert Jahren so etwas wie eine Demokratie im heutigen Sinne, mit einer gewählten Vertretung der Bevölkerung, gegen deren Willen die Regierung kaum etwas tun konnte. Die „Ostfriesische Landschaft“ gibt es bis heute, und viele Ostfriesen sind sehr stolz darauf.
7. Wie war das Leben in der friesischen Gemeinschaft organisiert?
Das wichtigste war die Familie, und zwar die Großfamilie. Als Kern galten Verwandte, die gemeinsame Ururgroßeltern hatten, im Zweifelsfall aber zählten aber auch noch drei Generationen mehr zur Sippe, der man sich verbunden fühlte, die füreinander einzustehen hatten und untereinander erbberechtigt waren.
Menschen wurden zuerst nach ihrer Familie einsortiert, nicht als Einzelpersonen. Daher kommt es auch, dass Menschen nach ihrem Vater benannt wurden – Onno Petersen ist der Sohn eines Peter, Levke Simons die Tochter eines Simon; und Peter Elken der Sohn einer Elke – eine Benennung ausnahmsweise nach der Mutter, was nur vorkam, wenn der Vater nicht bekannt war oder nicht bekannt werden sollte. Erst vor etwa 150 Jahren setzten sich endgültig feste Familiennamen durch, nun mussten Kinder zum Beispiel den gleichbleibenden Nachnamen Petersen tragen, selbst wenn ihr Vater Paul mit Vornamen hieß. Vor einem Jahr allerdings hat der deutsche Bundestag beschlossen, dass dies wieder geändert wird: Ab dem 1. Mai 2025 dürfen friesische Kinder nun wieder nach den Vornamen ihrer Eltern benannt werden und müssen keinen festen Nachnamen mehr führen.
Sehr wichtig war auch das – meist nur mündlich – überlieferte Recht. Darin war zum Beispiel festgehalten, wer was erbte. Oder welche Strafen für was verhängt wurden. Oder welche Ämter es wofür gab und wie entschieden wurde. Je älter ein Rechtssatz, desto bedeutender war er, anders als heute, wo neueres Recht immer das alte ablöst.
Die friesische Gemeinschaft war aber wohl vor allem sehr persönlich: Entschieden wurde dort, wo man sich kannte – das war eine Stärke, persönliches Vertrauen ist vielen Friesen bis heute wichtig, und es zählt für viele bis heute vor allem das gesprochene Wort. Erstmal einen Kaffee zusammen trinken, erzählen, aus welcher Familie man stammt und ob man vielleicht gemeinsame Bekannte hat, bevor man zur Sache kommt, das ist eine immer noch weit verbreitete Haltung. Allerdings konnte diese Art von Organisation durch persönliche Nähe irgendwann nicht mehr mithalten – die Hanse mit ihrem riesigen Netzwerk großer Städte und ihren schriftlich bis ins Detail festgelegten Rechten und Pflichten für alle ihre Mitglieder war deutlich stärker und lief dem Netzwerk friesischer Händler im späten Mittelalter den Rang ab.
Bis heute ist es so, dass zum Beispiel die friesische Sprache nur mit Menschen gesprochen wird, die man auch kennt, ansonsten beginnt man ein Gespräch automatisch auf Hochdeutsch. Umgekehrt sagen manche aber auch, dass, wenn man Unbekannte trifft, die ebenfalls Friesisch sprechen, es sich gleich so anfühlt, als wäre man schon lange eng befreundet.
8.a) Wer hatte bei den Friesen die meiste Macht?
Man darf sich die friesische Selbstverwaltung nicht so vorstellen wie unser heutiges System, mit regelmäßigen Wahlen, bei denen jede Stimme gleich viel zählt und es darauf ankommt, wer wählen darf. Es dürfte viel informeller, dabei aber ziemlich eingespielt gewesen sein – Entscheidungen wurden dort getroffen, wo man sich persönlich kannte, und gehört wurden vor allem diejenigen, die aus bedeutenden Famlien kamen, ohne dass rechtlich genau festgelegt war, wer das war. Allerdings gab es Gewohnheiten, denen unter anderem die Vergabe von Ämtern an bestimmte Höfe oder Familien folgten. Es war klar, dass wirtschaftlich mächtige Familien wie beispielsweise die von Großbauern mehr Einfluss hatten als diejenigen von zum Beispiel Landarbeitern.
8.b) Durften Frauen früher auch wählen? Welche Rechte hatten sie?
Frauen haben in Deutschland und damit auch in Nordfriesland erst seit 1918 das Wahlrecht. Aber Frauen aus wohlhabenden Familien hatten schon allein dadurch, dass sie aus diesen Familien kamen, sicherlich eine gewisse Macht und wurden besonders respektiert. Land, was sie als Mitgift in die Ehe brachten, gehörte im überlieferten friesischen Recht weiterhin ihnen und fiel im Zweifelsfall an ihre Familie zurück. Für einen verheirateten Mann war es also wichtig, sich mit seiner Frau und deren Familie gutzustellen. Und wenn Männer starben, bevor ihre Kinder erwachsen waren, verwalteten die Frauen für ihre Kinder den Besitz. Manchmal brauchten sie dafür offiziell einen männlichen Verwandten, der Verträge unterschreiben durfte; aber ohne Zustimmung der Witwe konnte auch dieser nur wenig durchsetzen. Es gab, wenn auch nicht überall und immer, zumindest hier und da sogar Regeln, wie junge Frauen sich ihren Ehepartner selber aussuchen konnten, obwohl offiziell die Entscheidung über Hochzeiten bei den Familien, vor allem bei den Eltern lag.
Im frühen Mittelalter trugen wohlhabende Frauen kleine Schlüssel als Symbol dafür, dass sie über das Haus und was darin geschieht, bestimmten, während ihre Männer für das „Draußen“, für Großvieh und Handel zuständig waren. Sehr viel später, während der Walfangzeit, waren die meisten Männer von den Inseln die meiste Zeit des Jahres auf See. Es ist naheliegend, dass in dieser Zeit Frauen das Sagen auf den Höfen hatten und natürlich auch im Winter nicht plötzlich diese Rolle ablegten. Aber eben vor allem die reichen Frauen – genau wie die reichen Männer.
Dass Trachtentanzgruppen heute vor allem aus Frauen bestehen, hat übrigens nichts damit zu tun, dass die Männer auf See waren, auch wenn das gerne so erzählt wird – beim gemeinsamen Tanzen ging es vor allem darum, sich zu begegnen, und ganz besonders darum, auf akzeptierte Weise mögliche Heiratskandidatinnen oder -kandidaten kennenzulernen. Das hat man natürlich vor allem im Winter getan, wenn auch die Männer da waren, sonst wäre es ja sinnlos gewesen. Heutzutage geht das Kennenlernen anders, viel zwangloser; und abgesehen davon, dass Trachten praktisch nur für Frauen überliefert sind, sind viele heutige Männer auch einfach Tanzmuffel.
9. Durfte damals jeder etwas Eigenes besitzen?
Natürlich. Viel wichtiger aber war der Familienbesitz. So hatten enge Verwandte, wenn jemand Land verkaufen wollte, ein Vorkaufsrecht – das Land sollte nach Möglichkeit in der Familie bleiben. Ähnliches galt für die Ehe: Starb zum Beispiel die Ehefrau, ohne dass es gemeinsame Kinder gab, dann fiel der Besitz, den sie in die Familie gebracht hatte, an ihre Verwandtschaft zurück, nicht an den Ehemann, und umgekehrt. Erst wenn es Kinder gab, konnten eine Witwe oder ein Witwer zum Beispiel Land oder Geld, das ihrem Partner oder Partnerin gehört hatte, behalten und es stellvertretend für die Erben, also die Kinder, verwalten. Übrigens gab es nach friesischem Recht keine Testamente; wer was erbte, war nach alten Regeln bis ins Detail festgelegt, daran konnte keine Einzelperson etwas ändern.
Bis zu einem gewissen Verwandtschaftsgrad – in der Regel gemeinsame Ururgroßeltern – galt eine gegenseitige Hilfs- und Beistandspflicht (auch als „Blutrache“ verschrieen, wobei es fast nur Regelungen gibt, wie man das Rachenehmen möglichst vermeidet; es ging aber auch um das gemeinsame Durchsetzen von Gerichtsentscheidungen, denn eine Polizei gab es nicht), und nur, wer hierzu bereit war, war auch erbbrechtigt.
10. Wie wurde in der friesischen Demokratie entschieden? Wie wurden die Anführer bei den Friesen gewählt? Was war das „Thing“ bei den Friesen und warum war es wichtig?
Die wichtigen Ämter wurden gewählt und üblicherweise mit Personen besetzt, die ohnehin einflussreich waren, in der Regel reiche Bauern, wobei es auch Gewohnheiten gab, welchen Höfen in welcher Reihenfolge welches Amt zustand. Es gab dafür übrigens auch keine Bezahlung, man musste es sich leisten können, sich für das Amt auch die nötige Zeit zu nehmen.
In den ältesten friesischen Texten wird das Amt des „Asega“ erwähnt, eines Wissenden, der auswendig gelernt hatte und ansagte, was das überlieferte Recht war, nach dem sich alle richten mussten, denn so etwas aufzuschreiben war unüblich. Oft waren es gereimte Sprüche, damit man es sich leichter merken konnte; auch in den ältesten Rechtstexten der Nordfriesen aus dem Jahr 1426 gibt es noch solche Reime. Ein Asega war hoch angesehen wie ein Priester, und wie bei Priestern galt die Berufung als Asega lebenslang. Dazu kamen im hohen Mittelalter die Redjeven, Ratgeber oder Rechtsgeber, die gemeinsam Urteile fällten und auch sonstige Entscheidungen trafen. Sie waren für meistens ein Jahr gewählt. Noch später und auch in Nordfriesland hießen sie einfach Räte. In jeder Harde gab es normalerweise zwölf davon, die gemeinsam zu entscheiden hatten, je drei für ein Viertelgebiet der Harde; so eine Viertelharde war oft zugleich auch ein Kirchbezirk, ein Kirchspiel mit einer Kirche, einem Priester oder Pastor und später auch einer Schule.
Ab dem späten Mittelalter wurde es immer mehr üblich, Beschlüsse und Regeln aufzuschreiben; das war auch für den Herzog oder König wichtig, damit er und seine Beamten nachlesen konnten, was als Recht galt und was die Hardesräte beschlossen hatten. Dafür gab es dann das Amt des Schreibers, während ein Asega wohl nicht mehr nötig war, jedenfalls werden sie irgendwann nicht mehr erwähnt. Damit auch die Rechte des Herrschers beachtet wurden, setzte dieser sogenannte Schulzen, Vögte oder Staller ein – meistens Männer, die ohnehin aus angesehenen Familien kamen, aber sich nun dem Herrscher verpflichteten, Steuern eintrieben oder auch besonders schwere Verbrechen verfolgten. Sie wurden für ihr Amt bezahlt. Und wo es Deiche gab – also fast überall – achteten gewählte Deichgrafen darauf, dass alle Landbesitzer sich daran beteiligten, die Deiche auch instandzuhalten. Diese Ämter – abgesehen vom Asega – gab es noch bis vor etwa 150 Jahren.
Die Gerichte tagten öffentlich, und es gab regelmäßig Beratungen der Amtsträger, die ebenfalls öffentlich waren; mal in den Viertelharden, mal in der Gesamtharde, und wenn nötig auch mehrere Harden zusammen. Diese Treffen fanden normalerweise unter freiem Himmel statt und wurden gelegentlich auch „Thing“ genannt. Die Zuhörer mussten allerdings in einem gewissen Abstand bleiben, damit sie nicht eingreifen oder unerlaubt vielleicht doch mitreden konnten. Wichtig dafür war auch der „Thingfrieden“ – wenn eine Versammlung einberufen wurde, mussten alle Frieden halten: vor Ort, damit Menschen zur Versammlung reisen konnten, ohne Angst um ihren Besitz oder ihre Familie haben zu müssen, auch auf dem Wege zur Versammlung, damit jeder gefahrlos den Thing erreichen konnte, und selbstverständlich auch bei der Versammlung selbst. Der Bruch des Thingfriedens wurde noch härter bestraft als der „normale“ Friedensbruch wie z.B. bewaffnete Angriffe bei der Feldarbeit oder gewaltsames Eindringen in die Häuser.
11. Welche Strafen gab es bei den Friesen?
In der Regel verhängten Gerichte keine Strafen im heutigen Sinne, sondern den Ausgleich von Schäden durch Geld. So war in den mittelalterlichen Texten bis ins Detail festgelegt, was bei bestimmten Verletzungen, z.B. dem Verlust eines Fingers oder der Nase, oder der Tötung eine Tieres zu zahlen war, sogar, was ein Menschenleben kostete. Entscheidender Maßstab dürfte der wirtschaftliche Schaden und der Verlust an Arbeitskraft gewesen sein, das Geld erhielt die geschädigte Person oder im Todesfall die Großfamilie, und damit war der Fall aus der Welt. In manchen Gegenden und zunehmend häufiger bekamen auch die Herrscher oder deren Beamte einen Anteil an solchen Ausgleichszahlungen.
Bestraft wurde auch der Friedensbruch, zum Beispiel wenn jemand Personen bei der Feldarbeit (Ackerfriede) oder in deren eigenen Häusern (Hausfriede) angegriffen hatte, oder bei oder auf dem Wege zu einer Versammlung (Thingfriede). Besonders schwer bestraft wurde Friedensbruch nach erfolgter Versöhnung, wenn also zum Beispiel nach einem Totschlag die festgelegte Summe bereits gezahlt worden war und dennoch jemand Blutrache an dem Täter oder dessen Familie nehmen wollte. Ebenso stand es unter Strafe, wenn junge Männer eine junge Frau entführten, um sie ohne Zustimmung der Eltern zu heiraten. Strafen waren im Extremfall Friedlosigkeit und Verbannung, mitunter der Verlust aller Erbrechte, nur sehr selten auch die Todesstrafe.
Strafen, die ein Gericht verhängte, auch durchzusetzen, war Privatsache, denn eine Polizei gab es nicht. Jeder, der erbberechtigt war, war auch verpflichtet, seinem Verwandten bei der Durchsetzung von dessen Ansprüchen zu helfen, bis hin zur Blutrache, wenn die gegnerische Großfamilie sich weigerte, die vorgeschriebenen Zahlungen zu leisten. Ebenso erhielt jeder, der dieser Verpflichtung nachkam, im Todesfall seines Verwandten auch Anteile an der Ausgleichszahlung. Wer sich der Pflicht zur Hilfe aber verweigerte, verlor auch alle Ansprüche, die sich aus der Verwandtschaft ergaben.
Wenn Richter oder hohe Beamten ihre Pflichten nicht erfüllten, bestechlich waren oder parteiisch Fehlurteile fällten, drohte ihnen der Verlust nicht nur ihres Amtes, sondern auch die Zerstörung ihres Eigentums, ihrer Brunnen oder Häuser. Wenn durch ihr Handeln als Amtsträger jemand zu Schaden gekommen war, hafteten sie im Zweifelsfall auch mit ihrem Privatvermögen dafür. Mit Macht ging halt auch hohe Verantwortung einher.
12. Gab es bei den Friesen auch Menschen, die wie Sklaven behandelt wurden?
Nein. Aber natürlich gab es Menschen – Bauern, Händler, Kapitäne – , die viel Besitz und Einfluss hatten, und solche, die abhängig davon waren, auf den reichen Höfen als Knechte, Mägde oder Arbeiter oder als Seeleute auf Schiffen ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Und sicher gab es immer wieder auch ungerechte und gewalttätige Herren oder Herrinnen. Aber Leibeigenschaft, bei der Menschen fest und ohne jede Möglichkeit, dem auf legale Weise zu entkommen, einem anderen Menschen untergeordnet und schutzlos ausgeliefert waren, gab es nicht.
13. Gab es Unterschiede in der Freiheit zwischen Nord-, West- und Ostfriesland?
Natürlich. Je nachdem, was passiert, was notwendig scheint oder wer die Macht hat, entwickeln sich Regionen unterschiedlich. Das gilt umso mehr, wenn sie – wie Nordfriesland von den anderen Frieslanden – weit entfernt liegen und der Kontakt nicht besonders eng ist. Westfriesland wurde nach dem Dreißigjährigen Krieg Teil der Niederlande, wenn auch mit manchen Sonderrechten, Ostfriesland wurde schon im späten Mittelalter eine eigene Grafschaft, die direkt dem Kaiser unterstand, allerdings nur das Kerngebiet der Ostfriesen umfasste, während andere ostfriesische Gebiete zum Herzogtum Oldenburg oder dem Bistum Münster gehörten. Nordfriesland bestand ohnehin immer aus kleinen Einheiten, die nur lose zusammenarbeiteten, aber alle dem Schleswiger Herzog oder dem dänischen König unterstanden.
Es fällt aber auf, dass die mittelalterlichen Rechtstexte der Friesen dennoch in vielen Fragen vergleichbar sind, dass vieles ähnlich geregelt wurde. Und auch wenn die äußere Form der Herrschaft oft völlig verschieden war und immer wieder wechselte, so galten viele der angestammten Rechte doch ohne große Änderungen weiter. In Nord- und Ostfriesland wurden die wichtigsten mittelalterlichen Sonderregelungen der Friesen, nämlich diejenigen zum Erb- und Familienrecht, erst mit Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches am 1. Januar 1900 ungültig. Die „friesische Freiheit“ bestand also, ja nachdem, auf welche Frage man blickt, lange über das Mittelalter hinaus.
14. Gab es Einflüsse von Wikingern oder anderen Völkern auf die friesische Freiheit?
Friesen kannten die Welt, sie waren weithin vernetzt, und was gefiel oder nützlich war, wurde selbstredend übernommen – seien es Kleidung oder Schmuck, seien es bestimmte Gegenstände oder Lebensweisen. Einfluss anderer gab es immer. Auch in der Sprache finden sich viele Worte, die von anderswo her übernommen worden – alles andere wäre auch unnormal, das ist im Deutschen nicht anders.
Aber speziell zu den Wikingern: In West- und Ostfriesland galten sie als Feinde; in Norwegen fand man ein silbernes Schmuckstück, auf dem in Runenschrift steht, wie erfolgreich man die Friesen angegriffen und reiche Beute gemacht habe. Umgekehrt regeln alte friesische Rechtstexte, dass, wer auf Wikingerschiffen mitgefahren sei und also mit geraubt und geplündert habe, zuhause alle Rechte, vor allem sein Erbe, verliere. Es sei denn, er schwörte, dass er entführt und zur Mitfahrt gezwungen worden sei.
In Nordfriesland sah das anders aus: Die Wikinger aus dem heutigen Jütland oder aus Haithabu waren gute Handelspartner, und irgendwann wohl auch Beschützer: Die Ringburgen auf Föhr und Sylt dürften auf Wikingerkönige zurückgehen, deren Soldaten die Märkte der friesischen Händler sicherten, die teilweise vom heutigen Frankreich bis nach Norwegen und Schweden unterwegs waren. Für solchen Schutz wurden bestimmt Abgaben gezahlt, aber beide Seiten hatten etwas davon. Im Sylter Museum ist eine riesige silberne „Fibel“ zu besichtigen, ein extrem teures Schmuckstück, mit dem man einen Umhang zusammenhalten konnte, und mit sehr kunstvollen Verzierungen, die beileibe nicht jeder Handwerker hätte anfertigen können – sie dürfte ziemlich unbequem zu tragen gewesen sein; aber der Prunk machte sicher Eindruck, und wer sich auskannte, wusste, dass so etwas eigentlich nur an Königshöfen zu bekommen war. Auf Sylt hat also vor gut 1000 Jahren eine Person gelebt, die zu den mächtigsten Kreisen des Reiches gehörte, ob der Mann nun von Sylt stammte oder als Vertreter eines Wikingerkönigs dorthin gezogen war, wissen wir zwar nicht; das ist aber letztlich auch egal.
15. Welche Rolle spielte die Kirche bei den Friesen?
Friesen haben immer wieder erst später Neuerungen übernommen, die andernorts längst etabliert waren, und stattdessen einfach ihre alten Gewohnheiten beibehalten. So pflegten Kirchenmusiker in Nordfriesland um 1800 noch vor jedem einzelnen Lied im Gottesdeinst ausführlich und lange zu musizieren, bevor man anfing zu singen, eine Sitte, die andernorts schon unüblich, teilweise sogar verboten war. Auch zu Anfang, im frühen Mittelalter hielten Friesen länger an Gewohnheiten fest als ihre Nachbarn: Archäologische Funde sowohl aus Ost- als auch aus Nordfriesland lassen vermuten, dass die Menschen hier erst deutlich später zu Christen wurden als ihre Nachbarn, nämlich die Sachsen und die Wikinger.
Als der berühmte christliche Bischof und Missionar Bonifatius alt wurde, wollte er als Märtyrer enden und so direkt in den Himmel kommen; er ging von Hessen aus auf Missionsreise zu den heidnischen Friesen in den heutigen Niederlanden und wurde – man möchte sagen „wunschgemäß“ – ermordet, im Jahr 754. Andererseits hatten Friesen schon um 800 eine eigene „Burg“ am Vatikan, eine besondere Ehre, die man sicherlich nur christlichen Völkern zugestand. Es war demnach wohl kompliziert in Sachen Religion.
Das Siegel der Pellwormharde aus dem späten Mittelalter zeigte eine Madonna, Maria mit dem Jesuskind. Das Christentum war also wichtig. Bis heute sagt man auf Nordfriesisch aber auch in der Regel, wenn man zum Gottesdienst geht, man geht zum „Hof“ – vielleicht hat sich hier eine alte Vorstellung von umzäunten heiligen Bezirken, von heiligen Hainen aus heidnischer Zeit erhalten?
Kirchen waren natürlich auch Prestigeobjekte: Auf Eiderstedt gibt es viel mehr Kirchen als man jemals brauchte, und sie sind durchweg ziemlich groß; hier ging es wohl vor allem darum, zu zeigen, was man sich an Prunk und Pracht so leisten konnte. Schon ziemlich früh erklangen in den friesischen Kirchen Orgeln, und oft ziemlich große, teure, von den besten Orgelbaumeistern ihrer Zeit – auch hier wollte man zeigen, dass die friesischen Bauern mit den reichen Bürgern in den Hansestädten mithalten konnten, dass sie gebildet waren und etwas von Kultur verstanden. Es gab ja auch nirgendwo anders als sonntags in den Kirchen Musik für alle kostenlos zu hören, das war immer etwas Besonderes und Beliebtes. Und nicht zuletzt waren Kirchtürme wichtige Wegweiser, sowohl für Schiffe, aber auch für Händler und Wanderer auf dem Festland, die zu Fuß zwischen zahlreichen Wasserläufen und gefährlichen Mooren den richtigen Weg finden mussten.
Die Pastoren waren seit der Reformation dafür zuständig, die Kirchenbücher zu führen – das sind heute oft die einzigen alten Dokumente, in denen steht, wer wann geboren und getauft wurde, wer wen geheiratet hat und wer wann starb, denn Standesämter gibt es erst seit rund 150 Jahren. Und Pastoren waren oft die gebildetsten Menschen am Ort, sie hatten studiert, viele Bücher gelesen, sie beaufsichtigen die Schulen und Lehrer in ihrer Gemeinde, kannten viele gebildete Menschen andernorts, trafen regelmäßig andere Pastoren und bekamen so oft als erste mit, wenn in der Welt etwas Wichtiges passierte. Daher waren sie ganz unabhängig von Gottesdiensten, Predigt und Unterricht wichtige Personen, auf deren Rat und Meinung viele hörten.
16. Gibt es heute noch Zeichen der alten friesischen Freiheit?
Es lässt sich nicht nachmessen, aber viele Menschen in Ost- und Nordfriesland haben einen besonderen Stolz darauf, ihre eigenen Dinge selber zu regeln, sich selber zu organisieren und dies nicht dem Staat oder großen Unternehmen zu überlassen. So gibt es wohl nirgends so viele Bürgerwindparks wie in Nord- und Ostfriesland, die so heißen, weil sie nicht den großen Energiefirmen gehören, sondern den Menschen und Gemeinden vor Ort. Auch der Glasfaserausbau und damit das schnelle Internet wurden in Nordfriesland vor allem von Menschen vor Ort vorangetrieben. Und in beiden Frieslanden wird gerne und viel darüber diskutiert, wie man sich organisiert und was man gemeinsam tun möchte, ohne erst auf „die da oben“ zu warten oder „denen da oben“ einfach zu folgen. So gab es zum Beispiel heftige Diskussionen darum, ob man das Wattenmeer unter Schutz stellen sollte oder nicht. Friesen lassen sich halt nicht gerne belehren und reden gerne bei möglichst allem mit, was sie betrifft – aber es könnte sein, dass beides zumindest hin und wieder auch auf Nichtfriesen zutrifft.
17. Welche Zeichen und Symbole erinnern heute noch an die friesische Freiheit?
Das einzige echte alte Symbol, das heute noch von Friesen benutzt wird, ist das Siegel der „Ostfriesischen Landschaft“, das Kaiser Leopold im Jahr 1678 dieser jahrhundertealten Vertretung der Ostfriesen gegenüber den Grafen verliehen hat – eine große Anerkennung, denn solche Siegel dürften normalerweise nur Adlige, Bischöfe oder reiche Klöster führen. Bei den Ostfriesen gilt auch der Grabhügel Upstalsboom als Freiheitszeichen, denn dort haben sich im späten Mittelalter mehrfach Vertreter der friesischen Gebiete im heutigen Ostfriesland und den Niederlanden getroffen, um über ihre gemeinsame Politik und über Rechtsfragen zu beraten. Seit einiger Zeit treffen sich wieder jedes Jahr am Dienstag nach Pfingsten Friesen aus West- und Ostfriesland am Upstalsboom, um dort am historischen Ort die friesische Freiheit zu feiern. Manchmal sind inzwischen sogar Nordfriesen dabei.
Vor rund 200 Jahren fing man in Nordfriesland an, neue Symbole zu erfinden, denn alte, die für alle Nordfriesen galten, gab es bis dahin nicht: So sind in der nordfriesischen Flagge der Adler des mittelalterlichen Kaiserreiches und die mittelalterliche deutsche Königskrone abgebildet, obwohl Nordfriesland niemals Teil dieses Reiches gewesen ist und niemals den Kaisern unterstand, die Nordfriesen also auch von diesen niemals irgendwelche Freiheitsrechte erhalten hatten. Aber es gab vor zweihundert Jahren und noch lange danach in Südschleswig und damit auch in Nordfriesland eine starke antidänische Stimmung, so dass vermeintlich alte „deutsche“ Symbole von Freiheitsrechten übernommen wurden, um sich von den Dänen abzugrenzen, obwohl diese Symbole in Bezug auf die Nordfriesen völliger Quatsch waren und bis heute sind.
Ein weiteres beliebtes Symbol der Nordfriesen ist der Grütztopf, der ebenfalls in der Flagge abgebildet ist. Um ihn ranken sich viele Erzählungen, die aber ebenfalls allesamt erfunden und in der Regel ebenfalls antidänisch sind. Man kann ihn aber auch so deuten: „Friesen essen alle aus demselben Topf“, sie sind also alle gleich und es gibt bei Ihnen keine Herren und keine Knechte.
18. Wie werden die Friesen heute behandelt und geschützt?
Viele glauben, es gebe Deutschland heute so wie es ist, weil das gesamte Gebiet immer schon von Deutschen bewohnt war. Und alle, die nicht deutsch seien, wären irgendwann eingewandert. Das stimmt so ganz und gar nicht. Denn erstens redet man erst seit rund fünfhundert Jahren von Deutschen, und lange war gar nicht klar, wer alles dazugehörte und wer nicht. Bei den Niederländern war das zumindest bis vor vierhundert Jahren umstritten, Österreicher gelten sogar erst seit dem zweiten Weltkrieg als eigenes Volk. Und zweitens gibt es Gegenden, in denen Deutsche – und mit ihnen die deutsche Sprache – zugewandert sind. Und auch wenn sich die meisten Familien, die vorher schon dort lebten, nach und nach angepasst haben, ebenfalls angefangen haben, Deutsch zu sprechen, Deutsche zu heiraten und sich als Deutsche zu verstehen, so gibt es doch immer noch Gruppen, die sich ein älteres, anderes Selbstverständnis bewahrt haben. Das gesamte heutige Ostdeutschland beispielsweise war vor tausend Jahren slawischsprachig, wenn auch nur dünn besiedelt; erst im hohen Mittelalter zogen deutsche Siedler dorthin und waren irgendwann in der Mehrheit. Die meisten Familien, die seit Jahrhunderten in den heutigen ostdeutschen Bundesländern leben, dürften daher auch slawische Vorfahren haben, auch wenn sie sich heute als Deutsche verstehen. In der Lausitz aber leben viele Menschen, die sich nach wie vor als Slawen sehen, als Sorben oder Wenden, und eben nicht als Deutsche. Viele sprechen zuhause, in den Schulen und Kirchen Sorbisch, eine Sprache, die dem Polnischen und Tschechischen sehr ähnlich ist. Manche sprechen aber auch Deutsch, halten jedoch daran fest, als Gruppe etwas anderes, etwas eigenes zu sein.
Bei den Friesen ist das im Grunde ähnlich: Zwar sprachen viele Friesen schon im Mittelalter neben Friesisch auch Dänisch oder Plattdeutsch, denn das musste man können, wenn man Handel treiben wollte; in der gesamten Region Schleswig wurde Plattdeutsch schließlich immer wichtiger, später, ab etwa um 1650, dann Hochdeutsch: Adlige und Gebildete sprachen so, und wer etwas auf sich hielt, übernahm diese Sprachen irgendwann einfach auch für die eigene Familie. Auch in Nordfriesland wurde in den Kirchen und Schulen erst Plattdeutsch, später Hochdeutsch gesprochen; Urkunden wurden fast nur ín diesen Sprachen verfasst. Friesisch aber blieb bis vor vierhundert Jahren fast überall die Sprache im privaten Kreis. Im Süden Nordfrieslands allerdings, vor allem auf Eiderstedt und Nordstrand, gab es vor drei- bis vierhundert Jahren mehrere schwere Sturmfluten. Deichbauer aus den Niederlanden wurden angeworben, um die beschädigten Deiche zu reparieren und verlorenes Land zurückzugewinnen. Plattdeutsch war für sie leichter zu erlernen als Friesisch, so dass auch die Einheimischen immer mehr zu Plattdeutsch als Familiensprache wechselten. Solche Sprachwechsel führten dazu, dass immer mehr Menschen sich als Deutsche begriffen, in der gesamten Region, aber eben auch in Nordfriesland.
Die Friesen sind also ein Beispiel dafür, dass das heutige Deutschland auch Gebiete umfasst, in denen deutsche Sprache, deutsche Kultur und deutsches Selbstverständnis nicht schon immer da waren, sondern in denen bereits Menschen mit einer anderen Sprache und einem nichtdeutschen Selbstverständnis gelebt haben; auch in den Frieslanden sind eben die Deutschen die Zugewanderten, selbst wenn sie dort schon lange die Mehrheit stellen und viele angestammte Familien sich mehr oder weniger stark angepasst haben.
Gruppen wie die Sorben oder Friesen stehen also für etwas älteres, für nichtdeutsche Wurzeln des heutigen deutschen Staates. Solche Gruppen genießen heute besonderen Schutz und können besondere Rechte einfordern; anders als früher sollen sie nicht unter Druck stehen, sich weiter anzupassen und „gute Deutsche“ zu werden. Dabei ist es, um zu einer dieser Gruppen dazuzugehören, völlig egal, welche Sprache man spricht. Natürlich ist bei den Friesen die friesische Sprache das, was am meisten auffällt, weil es sie nirgendwo anders gibt. Daher wird die friesische Sprache vom Staat besonders unterstützt, durch Schulunterricht, durch Sprachkurse, durch Geld für die Arbeit des Friesenrates oder für Einrichtungen wie das Nordfriisk Instituut und die Ferring Stiftung auf Föhr. Aber auch zahlreiche Menschen, die im Alltag nicht Friesisch sprechen, sondern Plattdeutsch oder Hochdeutsch, sehen sich als Friesen – mehrere Zehntausend dürften es in Nordfriesland sein, und noch viel mehr in Ostfriesland. Einfach wegen ihrer besonderen Geschichte, ihrer besonderen Herkunft, wegen besonderer Gewohnheiten oder Eigenschaften. Daher werden auch Traditionen wie Trachten oder Sportarten wie das Boßeln vom Staat gefördert; das Biikebrennen der Nordfriesen gilt sogar als besonders schützenswertes „immaterielles Kulturerbe“, eine hohe Anerkennung. Und deshalb gibt es offizielle Gremien, in denen Friesen ihre Interessen gegenüber den Bundesländern Schleswig-Holstein und Niedersachsen und auch gegenüber der Bundesregierung vertreten. Sie tun dies teilweise auch gemeinsam mit den Sorben, der dänischen Minderheit sowie den deutschen Sinti und Roma, die alle ebenfalls als „angestammte Minderheiten oder Volksgruppen“ anerkannt sind. Seit Neuestem dürfen Sorben, Dänen und Friesen wieder ihre alten Traditionen in Bezug auf Nachnamen nutzen, und deutsche Standesämter müssen das auch offiziell eintragen, selbst wenn es ihnen fremd vorkommt. Der deutsche Staat erkennt mit all diesen Regelungen an, dass er nicht rein deutsch ist und niemals rein deutsch war, sondern Respekt vor denen hat, die schon vorher da gewesen sind. Und da gehören die Friesen unbedingt dazu, sie sind einfach etwas Besonderes, auch wenn keiner sagen kann, wie „anders“ sie eigentlich sind. Sie sind halt „Friesen“.
Dr C. Schmidt nordfriiskinstituut
Die Fragen wurden im Rahmen des C.P. Hansen Jugendpreises 2025 erdacht und an Dr. C. Schmidt gestellt von: Ida Raspé 12 Jahre alt, -Ella Raspé 14 Jahre alt-